Fußgänger probieren Rollstuhl aus – ist das der Weg zur Inklusion?

Ich gehe ja ziemlich häufig zu Tagungen, Fachtagen, Arbeitsgruppen, Workshops und anderen Veranstaltungen, bei denen es um Inklusion, Teilhabe und Behinderte geht. Und natürlich begegnen mir ebenso häufig auch alle Klischees, Vorurteile und ganz viel gewollt-und-nicht-gekonnt. Selber sichtbar behindert, werde ich aber nie unmittelbar damit konfrontiert. Es muss sich eben immer noch wahnsinnig viel tun – vor allem in den Köpfen der Menschen.

Behinderte  sind vor allem Menschen mit geistigen Einschränkungen, zumindest wenn man etwas für sie tun muss, damit Inklusion klappt. Diesen Eindruck gewinne ich jedenfalls immer wieder. Die werden dann auch gar nicht erst mit einbezogen, sondern es wird, wie gehabt, für sie und über sie hinweg (vielleicht auch an ihnen vorbei) geplant und gemacht, immer mit der Prämisse, dass sie ja doch nicht verstehen, worum es geht. Aber ich habe auch noch nicht eine Inklusionsveranstaltung in Leichter Sprache erlebt……

Die zweite große Gruppe behinderter Menschen, für die bei diesen Veranstaltungen gedacht und geplant wird, sind Rollstuhlfahrer. Aber ist ja auch klar, immerhin wird Behinderung ja auch mit dem Rollifahrer als Symbol dargestellt….

Natürlich ist der Alltag im Rollstuhl nicht immer ganz einfach, ich kann selber ein Lied davon singen. Probleme bereitet dabei aber weniger der Rollstuhl, mit dem ich ziemlich gut umgehen kann, sondern eher rücksichtslose oder gedankenlose Leute, die trotz Behindertenparkplatz ihr Auto so dicht neben meins stellen, dass ich nicht wieder einsteigen kann. Oder Aufzüge, die nicht funktionieren, oder zugeparkte Bordsteinabsenkungen….

Aber es ist ja so einfach, von Barrierefreiheit zu reden und damit Behindertentoiletten, breite Türen, Fahrstühle und abgesenkte Kantsteine zu meinen. Darum werden bei öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen ja auch immer Leute aufgefordert mal einen Rollstuhl auszuprobieren. Das gibt es in ganz unterschiedlichen Variationen. Eine Möglichkeit ist der Rolli-Parcours. Mit mehr oder weniger schlechten, meist alten und zu großen Rollstühlen der Marke Billig, Leicht (haha) und Falt soll versucht werden, eine mit kleinen Hindernissen versehene Strecke abzufahren. Mir erschließt sich nicht so ganz, welches Ziel damit verfolgt wird. Wer drei Minuten in einem, noch dazu schlechten, nicht passenden, Rollstuhl gesessen hat, und danach auf seinen Füßen weiterspaziert, kann auch nicht ansatzweise verstehen oder nachempfinden, wie der Alltag eines Rollstuhlfahrer aussieht. Die zweite Variante sind Selbsterfahrungstage im Rollstuhl. Meistens ziehen nach einer kurzen Einführung kleine Grüppchen mit einem Rollstuhl los und erkunden in wechselnder Besetzung (des Rollis) die Umgebung und beurteilen ganz „fachmännisch“, wie wenig barrierefrei und rollstuhlfreundlich die Gegend doch ist. Aber auch, wie nett und hilfsbereit die Mitmenschen doch sind. Gewöhnlich ist kein „echter“ Rollstuhlfahrer dabei und vor allem sind es immer Gruppen, die da unterwegs sind, nie einer alleine. Wenn es also wirklich schwierig wird, kann man immer aussteigen oder wird geschoben oder getragen. (Da fällt mir ein bitterer Ausspruch eines älteren Herrn ein, dessen Frau schon seit Jahren einen Rolli benutzt: „Zu jedem Rollstuhlfahrer gehört ein Fußgänger“.)

Rollstuhlfahrer sind so unterschiedlich und vielfältig wie Fußgänger – wenn nicht noch viel unterschiedlicher und vielfältiger. Ebenso auch die körperlichen Gegebenheiten, die den Rolli erforderlich machen, abgesehen von der Vielfalt der Gefährte.

Tatsache ist nur, dass wir hier bei uns über Rollstühle verfügen und dass viele Menschen dadurch am Leben teilnehmen können. Ich persönlich bin sehr froh darüber, weil mein Leben sich sonst in einem viel kleineren Kreis abspielen müsste und ich auch nicht arbeiten könnte.

Anderen Rollifahrern ergeht es ganz anders. Das fängt schon damit an, dass sie nicht mit dem richtigen, also ihren Bedürfnissen entsprechenden, Rollstuhl ausgestattet sind. Oft haben sie neben ihrer körperlichen Erkrankung oder Schädigung auch noch eine seelische (die kommt oft einfach noch dazu). Ihre Lebensverhältnisse sind häufig sehr schwierig, egal ob es um Wohnraum, Partnerschaft und Sexualität, Bildung oder schlicht und einfach die Existenz geht. Viele dieser Probleme liegen auch in der Grundhaltung unserer Gesellschaft begründet: es zählt, wer schön, schlank, jung, fit, sportlich, intelligent, erfolgreich und wohlhabend ist – am besten noch alles zusammen! Das alles gibt es natürlich auch bei Rollstuhlfahrern. Die Zweifel, ob das auch stimmt, sind bei ihnen aber viel größer. Darum strampeln sie sich auch wesentlich mehr ab (beispielsweise im Beruf) als andere.

Aber noch einmal zurück zu den Inklusionveranstaltungen: Was ist mit den vielen anderen Arten von Behinderung, abgesehen von den geistigen Behinderungen und den Rollstuhlfahrern? Was ist mit gehörlosen Menschen oder mit Blinden oder sehgeschädigten? Was ist mit den Menschen, die wegen psychischer Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft immer noch stigmatisiert sind oder zumindest Angst machen? Was ist mit denen, die wegen einer Erkrankung oder Behinderung nur noch im Bett liegen können, oder die beatmet werden müssen? Wie viel Teilhabe will die Gesellschaft ihnen zugestehen? Wie soll das funktionieren, wenn sie bei allen Gesprächen über Inklusion nicht nur immer fehlen, sondern gleich ganz ausgeklammert werden?

Aussortiert? Aktion T4 der Nazis damals, Präimplantationsdiagnostik und Trisomie21-Bluttest heute

Zu Zeiten des Nationalsozialismus gab es Zwangssterilisation und Euthanasie. Rassenhygiene und Eugenik aber auch volkswirtschaftliche Aspekte wurden  damals für diese Grausamkeiten als Argumente  bemüht.

Zunächst einmal auf Deutsch, was in den letzten beiden Sätzen steht: Die Nationalsozialisten (regierten in Deutschland von 1933 bis 1945) zwangen Männer und Frauen mit Behinderungen oder vererbten Krankheiten, sich sterilisieren zu lassen, sich also unfruchtbar machen zu lassen, um zu verhindern, dass sie Kinder bekamen.

Als Euthanasie bezeichnet man Sterbehilfe, beispielweise bei totkranken Menschen, wenn sie es wollen. Auch das Einschläfern eines Haustieres wegen Krankheit wird als Euthanasie bezeichnet. Die Nationalsozialisten brachten aber behinderte Menschen um, vor allem Menschen mit seelischen oder geistigen Behinderungen. Die Menschen wurden vergast oder mit Giftspritzen getötet oder man ließ sie einfach durch unzreichende Nahrung und schlechte hygienische Bedingungen sterben.

Rassenhygiene und Eugenik heißt, dass die Nazis (Nationalsozialisten) von einer reinen, gesunden arischen Menschenrasse träumten und auch darauf hin arbeiteten. Darum wollten sie keine Menschen mit Behinderung oder vererbten Krankheiten haben. Auch Juden oder Menschen anderer Hautfarbe  wollten die Nazis nicht.

Volkswirtschaftliche Apekte beziehen sich darauf, ob jemand für die Allgemeinheit von Nutzen ist oder ob die Allgemeinheit für ihn bezahlen muss. Ob der Staat zum Beispiel Sozialhilfe bezahlen muss oder ob der Mensch selber arbeitet und zum Beispiel Steuern bezahlt.

Man findet es heute ganz schrecklich, was damals passiert ist. Auch deshalb ist heutzutage  aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten. Ein Arzt darf also jemandem, der sterbenskrank ist, keine Spritze geben, damit er einschläft. Auch jemand anders darf höchstens dabei helfen, dass der Patient sich selber tötet, indem er ihm beispielweise Gift besorgt. Euthanasie für Menschen soll es in Deutschland nicht geben. Hin und wieder diskutieren die Politiker aber darüber.

Am 1. September war der Gedenktag für die Opfer der Zwangssterilisation und Euthanasie der Nazi-Zeit, der T4-Aktion, wie das auch genannt wird. (T4 steht für Tiergartenstraße 4. Dort befand sich das Hauptquartier  der Gemeinnützigen Stiftung für Heil- und Anstaltspflege. Diese war zuständig für das Töten und Sterilisieren der behinderten Menschen.)

Gedenktafel, die in der Tiergartenstraße 4 aufgestellt ist im Gedenken an die Opfer der Aktion T4, die Opfer von Zwangsterilisation und Mord wegen Behinderung oder Erbkrankheit (Bild entnommen von Wiki media commons, Autor OTFW)

Das Gebäude  von damals in der Tiergartenstraße 4 gibt es nicht mehr. Aber man hat dort eine Gedenktafel aufgestellt. Mehr als 70.000 Menschen haben die Nazis umgebracht, weil sie ihr Leben als lebensunwert erachtet haben. Etwa 400.000 Menschen wurde zwangssterilisiert.

Heute passiert das alles hier in Deutschland nicht mehr. Aber der medizinische Fortschritt hat auch auch einiges verändert: Schon bevor ein behindertes Kind geboren wird, kann man etliche Untersuchungen machen: Ultraschall, Fruchtwasseruntersuchung, seit neustem einen Bluttest auf Trisomie 21, das Down-Syndrom. Wenn dann festgestellt wird, dass das Kind behindert auf die Welt kommen würde, lassen die Eltern häufig einen Schwangerschaftsabbruch machen. Die Begründung dafür darf zwar nicht die mögliche Behinderung des Kindes sein. Aber wenn die Eltern glaubhaft machen können, dass ihre seelische Gesundheit gefährdet ist, wenn sie ein behindertes Kind bekommen, darf die Schwangerschaft noch bis kurz vor der Geburt abgebrochen werden.

Schon bevor das Kind im Mutterleib anfangen darf, zu wachsen, kann man der Mutter Eizellen entnehmen und sie untersuchen, ob das Kind möglicherweise eine schlimme Erbkrankheit haben würde. Das selbe kann man mit den Samenzellen des Vaters machen. Erst wenn man bestimmte Genfehler ausgeschlossen hat, werden die Ei- und die Samenzelle zusammengbracht und der Mutter wieder eingesetzt. Das nennt man Präimplantationsdiagnostik (PID). (siehe auch https://inklusionjetzt.wordpress.com/2012/08/02/praimplantationsdiagnostik-pid-meine-gedanken-dazu/).

Menschen mit geistiger Behinderung wird häufig von vorneherein die Möglichkeit zum Geschlechtsverkehr verwehrt. Gerade in vollstationären Einrichtungen, also Heimen, ist das der Fall. Wenn sich Geschlechtsverkehr aber nicht vermeiden lässt, wird oft einfach für die Frau entschieden, dass sie eine Dreimonats-Spritze bekommt, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Anderen Menschen mit einer möglicherweise vererbten Behinderung wird oft mit vorgeschobenen medizinischen Gründen davon abgeraten, Eltern zu werden. So habe ich kürzlich eine Reportage über eine kleinwüchsige Familie im Fernsehen gesehen. Der Frau hatte ein Arzt auch geraten, keine Kinder zu bekommen. Sie hat aber einen netten Mann kennengelernt, auch kleinwüchsig, hat geheiratet und ist inzwischen  Mutter einer niedlichen Tochter. Die ist ebenfalls kleinwüchsig. Aber die Familie ist glücklich!

Hat sich die Sicht auf Menschen mit Behinderung wirklich verändert? Oder gibt es einfach nur andere Möglichkeiten? Die Nazis haben die Menschen getötet oder zwangssterilisiert. Heute versucht man schon im Vorwege während der Schwangerschaft, auszusortieren. Und Dank Pille, Dreimonats-Spritze oder Hormonstäbchen ist Sterilisation nicht mehr nötig.

Da frage ich mich, ob sich die Einstellung unserer Gesellschaft denn so sehr verändert hat. Schön, sportlich, fit, erfolgreich müssen die Menschen sein. Schon die Mütter von Babys wetteifern um jeden Zahn, den ihr Kind bekommt, als wäre es ihr eigenes, persönliches Verdienst. Sogar behindert darf man sein, wenn man den Anspruch an die gerade genannten Attribute erfüllt. Dann wir man zum „Vorbild“ für andere Behinderte.  Aber Menschen mit Behinderung sind ebenso unterschiedlich wie welche ohne. Sie haben Talente oder eben nicht, verfügen über ausreichen finanzielle Mittel oder Beziehungen zu den richtigen Leuten oder eben nicht.

 

Die öffentlichen Toiletten sind dahinten

Es war ein ungemütlicher regnerischer Tag in einer norddeutschen Kleinstadt, einer Kurstadt, als sich ungeheuerliches ereignete. In einem benachbarten Dorf gibt es eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für Erwachsene Männer und Frauen mit seelischer und geistiger Behinderung.Betreut wird die neunköpfige Gruppe unter anderem von einer körperbehinderten Ergotherapeutin, die im Rollstuhl sitzt. Einmal in der Woche ist „Stadt-Tag“. Die diensthabende Betreuungskraft fährt dann mit denen, die mit wollen in die Kleinstadt. Einige der Männer und Frauen haben Schwierigkeiten, sich alleine zu orientieren und bleiben darum mit der Betreuerin zusammen.Manchmal wollen auch die selbständigeren nich alleine bummeln gehen. So war es auch an diesem Tag. Nachdem einige kleine Einkäufe getätigt waren, Süßigkeiten, Zeitschriften, ein paar Blümchen für den Küchentisch in der Wohngruppe, sagte einer der Betreuten, er müsse mal auf die Toilette. Die Betreuerin, die Rollifahrerin, überlegte kurz und sagte dann: „Am besten gehst du da beim Bäcker mit dem Café“. Es war wirklich widerliches Wetter, windig und ein leichter Sprühregen hatte eingesetzt. Der Mann betrat die Bäckerei gefolgt von der Rollifahrerin und den übrigen vier Männern und Frauen. Die Verkäuferin blickte etwas mürrisch drein und wollte, dass jemand aus der Gruppe etwas kauft. Die Betreuerin sagte ihr, dass doch nur einer die Toilette benutzen wolle. Darauf meinte die Verkäuferin: „Die öffentlichen Toiletten sind aber dahinten“. Wie großzügig und wie rücksichtsvoll. Ihr war offenbar nämlich nicht klar, dass eine Betreuerin, die im Rolli sitzt, bei öffentlichen Toiletten, die nur über eine Treppe zu erreichen sind, Schwierigkeiten hat, ihre Gruppe ausreichend zu beaufsichtigen. Behindertentoiletten gibt es in der Kleinstadt auch. Aber die wären einen halben Kilometer weiter gewesen und sind zudem nur von Leuten mit Euroschlüssel zu benutzen. Der Mann durfte aufs Klo gehen. Aber für die Gruppe war die Situation sehr unangenehm. Zum Glück war das Café fast leer.