Hut ab! Kritik wurde konstruktiv aufgegriffen

Resterampe“ lautete die Überschrift meines Artikels hier im Blog  im September. Er bezog sich auf eine Anzeige des Arbeitgeberservices des Jobcenters und der Agentur für Arbeit Kreis Segeberg.  In marktschreierischer Manier sollten Menschen mit Behinderung verramscht werden. Diesen Eindruck konnte man bei den gewählten Formulierungen gewinnen.  Mein Artikel zog weite Kreise und löste nach einem Tweet von Raul Krauthausen auf Twitter eine rege Diskussion aus: Tweet und Diskussion .

Bis Anfang November dauerte es dann, dass auch das Jobcenter in Segeberg davon erfuhr. Dabei hatte ich den Link zum Artikel auf meinem Blog  per E-Mail auch an die nette engagierte Sachbearbeiterin der Agentur für Arbeit geschickt, die mich in Zeiten der Arbeitslosigkeit immer gut betreut hat. Sie hatte ihn auch weitergeleitet…

Anfang November meldete sich bei mir telefonisch Herr Knapp, Geschäftsführer des Jobcenters Kreis Segeberg. Ihm war die Twitterdiskussion zugeleitet worden und es war ihm eben auch aufgegangen, dass diese eigentlich gut gemeinte Anzeige auch in der Weise, wie ich sie etwas überspitzt und provokant interpretiert hatte, verstanden werden konnte. Wir trafen uns dann zu einem Gespräch im Jobcenter in Bad Segeberg. Mit dabei war Herr Stahl, sein Stellvertreter und Verfasser der Anzeige. Es war ein sehr konstruktives Gespräch, bei dem wir uns darauf einigten, dass die Anzeige so nicht wieder erscheinen soll. Sie sollte überarbeitet und wertschätzender formuliert werden. Zudem verabredeten wir einen Pressetermin zur Vorstellung der überarbeiteten,  neuen Anzeige:

Überarbeitete Anzeige des Jobcenters zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung

Die neue Anzeige des Jobcenters Kreis Segeberg, sachlich und in neuem Design

Zum Pressegespräch war eine Redakteurin der  Segeberger Zeitung  da, zwei Mitarbeiterinnen lokaler Anzeigenblätter (Basses Blatt , Umschau , Nordexpress) und Frank Warnholz, Fachberater beim Aktionsbündnis Inklusive Jobs Schleswig-Holstein , außerdem natürlich Herr Knapp und Herr Stahl.

Lange und ausführlich wurde in dem Pressegespräch die Frage nach dem besonderen Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderung  – Schreckgespenst für  Arbeitgeber, aber eben doch nur ein Phantom – erörtert. Auch bei den Pressevertreterinnen herrschte das Vorurteil, dass man einen Arbeitnehmer mit Behinderung „nie wieder loswird“. Dieser Irrglaube konnte ausgeräumt werden. Leider wird dieses Thema aber  in keinem der später erschienen Artikel erwähnt.

Immerhin hat das Thema Beschäftigung von Menschen mit Behinderung aber einmal aus einer anderen Perspektive etwas Aufmerksamkeit erhalten. Super finde ich, dass meine Kritik konstruktiv aufgegriffen und ein neuer Anzeigentext gefunden wurde.

Artikel aus der Umschau, 19.12.2018

Artikel Basses Blatt, 19.12.2018

Basses Blatt 19.12.2018

Artikel Nordexpress, 19.12.2018

Artikel Nordexpress, 19.12.2018

Artikel Segeberger Zeitung, 20.12.2018

Segeberger Zeitung, 20.12.2018

Resterampe

Kommen Sie! Greifen Sie zu! In Zeiten des Fachkräftemangels kriegen Sie von uns eine Fachkraft geschenkt! Greifen Sie zu! Sie können die Fachkraft sogar ausprobieren. Bei Nichtgefallen geben Sie sie einfach zurück!

Arbeitgeber aufgepasst! Kennen Sie schon die Probebeschäftigung für Behinderte Menschen? Bei Neueinstellung können Sie einen 100%igen Lohnkostenzuschuss erhalten (...)

Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Greifen Sie zu! Es kostet nichts und es gibt auch kein Risiko! 

Ich finde es ja gut, dass die Agentur für Arbeit und das Jobcenter endlich kapiert haben, dass man bei den Arbeitgebern ansetzen muss, wenn man Menschen mit Behinderung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse auf dem ersten Arbeitsmarkt bringen will. Aber doch bitte nicht so! Das ist keine Inklusion! Hier werden Arbeitnehmer mit Behinderung oder ihnen Gleichgestellte wie Sauerbier angepriesen. Dabei kann man der Statistik der Agentur für Arbeit entnehmen: „Schwerbehinderte Arbeitslose sind im Durchschnitt zwar älter, aber im Mittel auch etwas höher qualifiziert als nicht-schwerbehinderte Arbeitslose. Dabei war 2016 der Anteil der arbeitslosen schwerbehinderten Frauen ohne Berufsabschluss etwas höher als bei den arbeitslosen schwerbehinderten Männern – aber immer noch geringer als bei den nicht-schwerbehinderten arbeitslosen Frauen.“  (Quelle: Arbeitsmarkt kompakt 2017 Situation schwerbehinderter Menschen).

Detailierteren Statistiken kann man sogar entnehmen, das der überwiegende Teil der der Arbeitnehmer mit Behinderung (und der Gleichgestellten) über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt oder sogar einen akademischen Abschluss hat.

Arbeitgeber sind verpflichtet, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen! Es wird ihnen aber immer noch viel zu leicht gemacht, sich dieser Verpflichtung zu entziehen. Kleine Betriebe sind sowieso außen vor. Erst ab zwanzig Mitarbeitern greift die Quote von 5 % Mitarbeitern mit Behinderung. Größere Betriebe kaufen sich über eine lächerlich niedrige Ausgleichsabgabe von ihrer Pflicht zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung frei. Eine andere Möglichkeit ist, einfache Tätigkeiten an eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung abzugeben. Dabei schlägt man dann gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: man hat die Menschen mit Behinderung nicht im eigenen Betrieb, man muss keine Ausgleichsabgabe zahlen, man bekommt hervorragende Arbeit für ganz kleines Geld (die Menschen in den Werkstätten haben ein Einkommen auf Sozialhilfeniveau und bekommen nicht einmal Mindestlohn!), und man kann sich ganz sozial geben, weil man ja was für die Behinderten tut…

Arbeitgeber, die aber doch selber Mitarbeiter mit Behinderung einstellen, können davon profitieren: da ist zunächst einmal der Lohnkostenzuschuss, eigentlich gedacht als Minderleistungsausgleich. Minderleistung? Die meisten Arbeitnehmer mit Behinderung, die wirklich arbeiten wollen, leisten eher mehr als 100 %, aus Angst, ihren Job wieder zu verlieren. Das heißt, dass der Arbeitgeber einen qualifizierten,  überdurchschnittlich engagierten Mitarbeiter bekommt, für den er oft nur die Hälfte oder weniger des regulären Gehaltes zahlen muss. Dazu werden oft auch Kosten für die behinderungsbedingte Anpassung oder Ausstattung des Arbeitsplatzes bezahlt.

Ich finde es sehr schade, dass man versucht Arbeitgeber in marktschreierischer Weise zu ködern mit einem Angebot, dass schnell zur Enttäuschung werden kann. Gerade viele Menschen, die einen GdB unter 50 haben, haben meistens keine Einschränkungen, die so stark sind, dass sie einen (hohen) Lohnkostenzuschuss rechtfertigen würden. Gewöhnlich wird der Zuschuss auch nur zeitlich begrenzt gewährt (blöd für den Arbeitnehmer, wenn dass mit dem Ende des befristeten Arbeitsvertrages zusammenfällt…)

Es wäre sinnvoller Arbeitgeber an ihre Verpflichtung zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu erinnern. Das könnte man ihnen schmackhaft machen, indem man ihnen klar macht, dass sie andernfalls auf gut qualifizierte Mitarbeiter verzichten, die zudem gewöhnlich hoch motiviert sind. Dann sollte man die Ausgleichsabgabe mindestens verdreifachen und die jährlichen Meldungen über die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung auch überprüfen. Das Freikaufen über die Vergabe von Aufträgen an WfbM sollte gar nicht mehr möglich sein.