Behindertenzirkus

Mein Wunsch nach einer inklusiven Gesellschaft ist gerade mal wieder besonders groß. Ich habe es so satt, dass immer wieder behinderte Menschen oder deren Angehörige meinen, sich wie eine Zirkusattraktion zur Schau stellen zu müssen. Als ob man damit irgendetwas erreichen könnte!

Zurzeit zieht ein Vater mit seinem behinderten Sohn quer durch Deutschland. Er will mit dieser Aktion auf die Situation Angehöriger von Menschen mit Behinderung aufmerksam machen. Klar gibt es Aufmerksamkeit, sogar mediale – das Sommerloch ist da und die Lokalpresse freut sich über jede noch so kleine Geschichte. Aber wie lange hält diese Aufmerksamkeit? Und ist es richtig, dass dieser Vater eines 18-jährigen Jungen immer noch den Wunsch nach einem gemeinsamen Wohnprojekt mit seinem erwachsenen Kind hat? Auch ein schwerstbehinderter Mensch hat ein Recht darauf, erwachsen zu werden und zu sein. Dazu gehört dann auch die Loslösung vom Elternhaus, die Möglichkeit neue Beziehungen aufzubauen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen…. Dazu gehört auch, dass Eltern oder andere Angehörige, die bisher für Pflege und Versorgung zuständig waren, lernen loszulassen, sich wieder auf ihr eigenes Leben zu besinnen – genauso wie es auch Eltern nicht behinderter Kinder tun, wenn diese anfangen, flügge zu werden. Natürlich macht das zunächst einmal Angst und es entsteht eine große Lücke, weil das zu fehlen beginnt, was Sinn, Bestätigung und Anerkennung (auch und besonders von Außenstehenden) gebracht hat.

Aber es gibt so viele Möglichkeiten, sich anderweitig zu engagieren und dem nun erwachsenen Kind die Möglichkeit zu einem eigenen Leben zu geben, natürlich mit Betreuung, Begleitung und Assistenz. Häufig kommen dann sogar noch ganz ungeahnte Fähigkeiten und Bedürfnisse zum Vorschein.

Ein anderer, der sich zum Zirkuspferdchen hatte machen wollen, war ein an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankter Mann, der mit seinem E-Rollstuhl durch die Lande ziehen wollte, hinter den er einen Anhänger gehängt hatte, auf dem, wie ein Hündchen, seine Frau saß. Er hatte wohl sogar diverse Sponsoren für diese Aktion aufgetan. Sein Ziel war es, mehr Menschen auf diese relativ seltene Krankheit aufmerksam zu machen und so dafür zu sorgen, dass intensiver dazu geforscht wird. Die Tücken der Technik machten der Tour aber schon nach kurzer Zeit ein Ende. Der Akku des E-Rollis verfügte nicht über die zuvor berechnete Kapazität. Gebracht hat es nichts, außer vermutlich eine große Enttäuschung bei dem kranken Mann und seiner Frau. Das Interesse bei Wissenschaftlern und vor allem Pharmakonzernen zur Erforschung der ALS wird vermutlich kaum größer geworden sein. Die Krankheit ist und bleibt aus pharmawirtschaftlicher Sicht unbedeutend, ebenso wie etliche andere Krankheiten, von denen eben nur ein paar Tausend oder Zehntausend Menschen auf der Welt betroffen sind.

Da ist in den USA der Vater Dick Hoyt, der seit den siebziger Jahren zusammen mit seinem Sohn Rick, der durch eine Cerebralparese behindert ist, an einigen hundert Marathon- und Triathlon-Wettbewerben teilgenommen hat – dies allerdings erst nachdem jahrelang seine Fähigkeiten, Bedürfnisse und Wünsche gar nicht richtig wahrgenommen worden waren bzw. wahrgenommen werden konnten. Die beiden machen das exzessiv. Im Internet und bei anderen Medien kommt ihre Geschichte fast wie direkt aus Hollywood entlaufen daher. Kommentare zu Videos im Internet laufen fast vor Rührung über. Immer wieder ist da von Tränen die Rede und welche große Liebe dieser Vater doch für seinen Sohn empfinden muss. Vielleicht ist es aber doch auch nur eine Selbstinszenierung. Auch von Motivation für andere Behinderte ist in den Web-Kommentaren die Rede. Motivation? Zu was soll denn das andere Behinderte motivieren? Es gibt ja beispielsweise  nicht einmal genug Freiwillige, die zu einer Fahrradtour mit Blinden oder Sehbehinderten vorne mit aufs Tandem steigen oder Sportvereine, die auch Menschen mit geistigen Behinderungen gerne bei sich aufnehmen. Und am Strand an der Ostsee kommt ein Rollstuhlfahrer nicht einmal bis zum Wasser, auch wenn er dann sogar schwimmen könnte. Aber vielleicht sollen ja nur noch mehr Eltern motiviert werden, sich „aufzuopfern“ für ihre behinderten Kinder.

Inklusion heißt, dass wir alle unterschiedlich sind und mit dieser Unterschiedlichkeit alle Teil einer Gesellschaft sind. Da gibt es Rollifahrer, die sich besser in der Halfpipe bewegen als so mancher Skateboard-Fahrer. Die sind klasse! Und es gibt Läufer, die die 100 Meter unter zehn Sekunden laufen. Auch die sind klasse! Aber hier handelt es sich immer um Ausnahmen! Die kann man bewundern, sich zu Idolen machen.

Trotzdem muss sich die Situation behinderter Menschen auf anderem Wege verändern. Ganz wichtig ist, dass wir behinderten Menschen daran mit arbeiten. Wir müssen sagen, welche Bedürfnisse wir haben und wo es hakt. Hier und da ist sicher auch einmal ein Kompromiss denkbar. Wir dürfen uns nicht immer als Opfer und als Abhängige, Hilfsbedürftige sehen (lassen). So viele von uns könnten aus der Passivität heraus kommen und Inklusion mitgestalten. Es gibt so viel, was die Nichtbehinderten weder sehen noch wissen (können).